Die Gesellschaft setzt sich zu Tisch.

Gerade erlebe ich ein Déjà-vu. Ich fühle mich angesichts der Medienberichte und Social-Media-Diskurse zurückversetzt in die Zeit, als ich in meiner Dissertation die seinerzeit, so mein Befund, neue Aufmerksamkeit für Lebensmittel in Medien und Gesellschaft untersucht habe. Das ist jetzt 15 Jahre her.

Wie es zur (gar nicht mehr so) neuen Aufmerksamkeit für Lebensmittel gekommen ist.

Gerade erlebe ich ein Déjà-vu. Ich fühle mich angesichts der Medienberichte und Social-Media-Diskurse zurückversetzt in die Zeit, als ich in meiner Dissertation die seinerzeit, so mein Befund, neue Aufmerksamkeit für Lebensmittel in Medien und Gesellschaft untersucht habe. Das ist jetzt 15 Jahre her. Mich interessierte damals:

Woran orientieren wir uns, wenn wir uns mit Lebensmitteln beschäftigen, und wie kam es dazu?

Mein Ansatz damals: Es gibt vier Dimensionen – „Orientierungsmuster“ – die unsere verwickelte Beziehung zu Lebensmitteln beschreiben und zu verstehen. Bei allem, was wir mit Lebensmitteln anstellen, orientieren wir uns bewusst oder unbewusst an diesen Aspekten. Wir beurteilen, wählen, kaufen, lehnen ab, stellen her, sprechen darüber, bereiten zu, werfen weg, verbieten, verbessern, entwickeln etc. Wir erwarten von Lebensmitteln etwas und das wirkt sich auf unser Handeln und Wollen aus. Hier herrscht aber kein beliebiges Durcheinander, sondern wir „ticken“ in ähnlichen Mustern – Orientierungsmustern. Und weil die immer alle gleichzeitig aktiv sind, wenn auch nicht immer gleich ausgeprägt, passen sie oft nicht so recht zusammen und erzeugen Konflikte. Individuelle und gesellschaftliche.

Womöglich helfen uns diese individuellen Orientierungsmuster heute, die Widersprüche zu verstehen, auszuhalten und die nötigen Debatten differenziert und konstruktiv zu führen? Sie lauten:

„An apple a day keeps the doctor away”
Das physisch-instrumentelle Muster

Welche Folgen hat der Verzehr von Lebensmitteln für mich und meine Gesundheit oder die Gesundheit derer, die ich versorge? (wissenschaftliches und nichtwissenschaftliches Wissen)

 „Rettet den Regenwald: Esst mehr Gemüse!“
Das konsumpolitische Muster

Welche Folgen hat mein Konsum für andere Menschen und Systeme, die das Lebensmittel im Herstellungs- und Vertriebsprozess berühren? (Moral nach innen und Moral nach außen, Fingerabdruckdenken und Fußabdruckdenken)

„Der Mensch ist, was er isst“
Das symbolisch-ästhetische Muster

Welches Erlebnis verschaffe ich mir durch den Verzehr von Lebensmitteln und was sage ich mit meinem Lebensmittelkonsum über mich und meine Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppen? (Selbstwissen und Codewissen)

„Wer’s isst, wird selig“
Das metaphysische Muster

Wie kann ich dem (Seelen-)Heil näherkommen, in dem ich bestimmte Lebensmittel verzehre oder vermeide? (Beziehung zu mir und Beziehung zu anderen)

Viele der aktuellen Themen – die „völlig überraschenden“ Erkenntnisse über die Herstellung von Lebensmitteln, gerade in der Fleischproduktion, und Debatten um die Frage, ob es überhaupt jemanden etwas angeht, was ich esse, und ob es ein Recht auf bestimmte Lebensmittel gibt, usw. – sind alles andere als neu. Aber das war einer meiner zentralen Befunde: Die Aufmerksamkeit für Lebensmittel passiert in Wellen, ausgelöst durch Skandale oder akute Risiken. Und es zeigt sich immer wieder – leicht variiert – die gleiche Phasenabfolge:

Aufgeregtheit und Aktionismus, Suche nach Verantwortlichen, Festlegen von Kontroll- oder Gegenmaßnahmen und dann – im Vertrauen auf Institutionen und moderne Technologie – Weitermachen wie bisher. Die ablaufenden Mechanismen zeichnen sich in der Studie an einigen Beispielen so ab (industrielle Landwirtschaft, BSE, Bedrohung von Ökosystemen, Gentechnik und Welternährung).

Im Zuge eines Vortrags im Technoseum in Mannheim 2012, habe ich ein sehr optimistisches Fazit gezogen: „Diese Phasenabfolgen zu kennen, befähigt im Risikofall, nachhaltige Lösungen zu finden, statt Symptome zu bekämpfen.“

Wir werden künftig wohl viele Gelegenheiten haben, zu erfahren, ob wir als Gesellschaft lernfähig sind, was den Umgang mit Lebensmitteln angeht: Tierwohl und Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie, Ernteausfälle durch den Klimawandel (der wiederum durchaus in Zusammenhang mit unseren Ernährungsgewohnheiten steht), in der Pandemie mitunter fragile Lieferketten, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Es geht um nichts weniger als die Frage, in welcher Welt wir in Zukunft leben wollen.

In meiner soziologischen Untersuchung, die 2010 abgeschlossen war, habe ich rund 1.000 Artikel des Nachrichtenmagazins Der Spiegel aus 30 Jahren ausgewertet (1975 bis 2005). So war es möglich, die Entwicklung durch die Brille dieser vier Orientierungsmuster zu betrachten und zu sehen, wie sich unsere Aufmerksamkeit für Lebensmittel – und damit die Art und Weise, wie sie unsere Identität bestimmen – verändert hat und zu dem geworden ist, was wir heute vorfinden.

Die Dissertation (Uni Bamberg) von 2010:
Die Aufmerksamkeit für Lebensmittel. Eine zeitgeschichtliche Rekonstruktion kollektiver Orientierungsmuster (1975-2005)
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